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ESC: Warum Deutschland nach der Blamage jetzt einen Neuanfang braucht

Auch im Jahr 2021 zeigte Deutschland sich beim Eurovision Song Contest wieder von seiner schlechtesten Seite. Ein verzweifelter Hilferuf.

Jendrik Sigwart
Credit: © NDR/Hendrik Lüders

Die Zeiten, in denen wir mit unseren Beiträgen beim Eurovision Song Contest glänzten, sind längst vorbei. Auch der Hype vor den Fernsehgeräten scheint vorüber: Am gestrigen Sonnabend erreichte der ESC im Ersten die schlechteste Quote seit 2008. Wie können wir uns vor dem nächsten ESC-Desaster retten?

Der Eurovision Song Contest ist die größte Musikshow der Welt. Zuschauer aus ganz Europa und darüber hinaus verfolgen an diesem Abend den Kampf um den Sieg. Doch während man den Eindruck bekommt, dass andere Länder sich ausführlich mit deren Kandidatenauswahl beschäftigen, ist das Thema in Deutschland mittlerweile eine Hinterzimmer-Entscheidung.

So gab es scheinbar eine „Fachjury“, welche die Beiträge der letzten zwei Jahre auswählte. Angeblich soll es auch Songwriting-Camps gegeben haben, die angeblich noch große Hits mit sich bringen sollten. Fehlanzeige.

Seit über zehn Jahren ist nämlich NDR-Unterhaltungskoordinator Thomas Schreiber für den deutschen Beitrag mit verantwortlich gewesen. Wie sein Händchen für die Auswahl der Teilnehmer war, ist uns fast allen bekannt. Während man auf diesen Reigen der Fehlentscheidungen in einem privatwirtschaftlichen Unternehmen sofort mit einer Entlassung geantwortet hätte, durfte Schreiber munter weitermachen. Bis jetzt, denn seit Mai 2021 ist er nun Geschäftsführer für eine ARD-Tochterfirma.

Jendrik: Für diesen Erfolg sollten wir uns schämen

Das Urteil über unseren Beitrag in diesem Jahr ist wirklich mehr als bitter. Lediglich drei Mitleidspunkte erhielten wir von den Fachjurys. Das Urteil des Publikums? Vernichtend – 0 Punkte! Dennoch zählt Jendrik damit zu dem zweiterfolgreichsten Teilnehmer seit 2015. Zwei Mal in Folge wurden wir letzter (Ann Sophie, Jamie Lee) und drei Mal Vorletzter (Hendrik, Levina, S!sters). Lediglich Michael Schulte schaffte es im Jahr 2018 mit seiner starken Nummer „You Let Me Walk Alone“ auf den 4. Platz – zur Abwechslung mal eine gute Wahl.

Wo sind Ralph Siegel und Stefan Raab?

Zwei große deutsche ESC-Köpfe werden bei dem gestrigen deutschen Beitrag sicher die Augen verdreht haben, Ralph Siegel und Stefan Raab. Wo sind die Zeiten hin, in denen sich die größten Namen der deutschen Musikindustrie mit dem Beitrag beschäftigt haben? Wo ist die Motivation hin einen potentiellen Sieger ins Rennen zu schicken? Warum schreitet hier niemand ein?

Wir blicken zurück: Über 14 Mal hatte Ralph Siegel bei der Auswahl der Kandidaten seine Hände im Spiel. Mit Erfolg: Im Jahr 1982 schaffte er es gemeinsam mit Nicole und dem Titel „Ein bisschen Frieden“ den ersten Platz zu holen. Auch andere Siegel-Interpreten konnten beim ESC glänzen: So schafften es Lena Valaitis (Johnny Blue), die Gruppe Wind (Lass die Sonne in Dein Herz) und Katja Ebstein (Theater) jeweils auf den zweiten Platz.

Doch nicht nur Ralph Siegel sorgte für gute ESC-Platzierungen. Auch Stefan Raab prägte den Wettbewerb mit seinem Mitwirken. So landete er selbst mit seinen Blödel-Beiträgen im Jahr 1998 (Guildo Horn – Guildo hat Euch lieb) und im Jahr 2000 (Stefan Raab – Wadde hadde dudde da?) auf Plätzen, von denen wir heute nur träumen können: 7 und 5.

Von 2010 bis 2012 sorgte Raab für einen echten ESC-Hype. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk öffnete sich für Neues und kooperierte mit ProSieben. In dieser Zeit suchte man gemeinsam mit Raab in verschiedenen Casting-Shows nach dem perfekten Beitrag. Bereits im ersten Jahr zeigte Raab, dass er den richtigen Riecher hatte. Mit der damals erst 18-jährigen Lena-Meyer Landrut und dem Song Satellite schafften wir es im Jahr 2010 wieder auf den ersten Platz. Das ESC-Fieber hatte Deutschland wieder im Griff.

Im darauffolgenden Jahr trat Lena wieder an, erreichte jedoch „nur“ noch den 10. Platz. Im Jahr 2012 fand man in der Show  „Unser Song für Baku“ dann Roman Lob, der mit dem Song „Standing Still“ den 8. Platz belegte.

Deutschland: ESC-Neuanfang bitter nötig

Die Ära von Thomas Schreiber ist nach einem Jahrzehnt nun glücklicherweise beendet. Dies sollten wir zum Anlass nehmen und einen kompletten Neuanfang starten. Anstatt nun Mittelsmänner oder Schreiber-Marionetten zu installieren, sollten wir künftig an einem Strang ziehen. Vielleicht braucht es ein neues Casting-Format, wo der Wille des Zuschauers berücksichtigt wird.

Wir in Deutschland haben viele gute Künstler. Statt No-Name-Kandidaten aus der Hinterkammer des NDRs sollten wir vielleicht auch mal auf unsere großen Namen setzen. Es sollte nicht so sein, dass die Beiträge in der Schöneberger-Warm-Up-Show besser sind als unsere Beiträge, die wir quer durch Europa schicken.

Deutschland braucht jetzt dringend einen Retter, einen zweiten Stefan Raab oder einen zweiten Ralph Siegel. Wer weiß, vielleicht ist ja sogar einer der beiden nochmal bereit dazu? Aber auch sonst: Ich wünsche mir die Zeiten zurück, in der man stolz auf den Beitrag des eigenen Landes war. Und das konnte man die letzten Jahre (mit Ausnahme von Michael Schulte) leider nicht behaupten.